Vor mehr als 75 Jahren Vertreibung

der Deutschen aus Ostdeutschland – was bleibt?

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war unser Kontinent Europa in Erstarrung und Blockbildung gefallen. Diese begannen 1989 und in den Jahren danach mit dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs zu lösen. Grenzen wurden durchlässig und kaum mehr wahrnehmbar. Handel von West nach Ost und von Ost nach West nahmen von Jahr zu Jahr immer mehr zu. Es lag die Annahme nahe, dass Europa nun tatsächlich eine dauerhafte friedliche Zukunft haben würde. Waren die gut vier Jahrzehnte nach dem Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa geprägt von dem stets gefährdeten Frieden in der Zeit des Kalten Krieges, so kam es nach 1989 in Mitteleuropa in zunächst friedlicher Weise zu einer Neugestaltung der Grenzen. Völker machten sich selbständig, bildeten eigene Staaten. An erster Stelle ist die Wiedervereinigung von West- und Mitteldeutschland (BRD und DDR) unter Verzicht auf Ostdeutschland zu nennen, dann die Wiedererstehung der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, der Ukraine und kaukasischen Staaten sowie die Trennung der Tschechen und Slowaken in jeweils eigene Staaten. Im Weiteren war es dann mit dem friedlichen Selbstständigmachen vorbei. Beim Zerfall des durch das Tito-Regime zusammengehaltenen Jugoslawien kam es zu von Serbien angestifteten Kriegen, Völkermorden und Vertreibungen. In Deutschland kamen in jenen Jahren Balkanflüchtlinge in großer Zahl an.

In diesem Prozess der Umgestaltung Mittelosteuropas sah sich Russland, das in der ehemaligen Sowjetunion – Siegermacht des Zweiten Weltkrieges – tonangebend und bestimmend war, als großer Verlierer und suchte das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen am Kaukasus folgte 2014 der Ukrainekonflikt mit der Besetzung von ukrainischem Staatsgebiet im Süden und Osten. Im Jahre 2022 wurde daraus ein heißer Krieg mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung. Millionen von Ukrainern verließen ihr Land, Hunderttausende kamen bisher nach Deutschland. Diese Situation – Kriegsflüchtlinge und Vertriebene aus Europa Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts in Europa – zwingen dazu, an die Millionen Deutsche zu denken, die 1945 und insbesondere 1946 und auch noch in den Jahren danach aus Ostdeutschland flohen oder vertrieben worden waren. Ist dieses Geschehen vergessen? Kann Vertreibung dann, wenn die Betroffenen – Millionen Deutsche aus Ostpreußen, Westpreußen, Danzig, Pommern, Ostbrandenburg und Schlesien – inzwischen weitgehend verstorben sind, einfach abgehakt und ad acta gelegt werden? Ist das, was der Vertreibung folgte, nämlich Ankunft und im Weitern Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im Westen und in der Mitte Deutschlands, nicht bedenkenswert?

Menschen brauchen Orte, die ihnen helfen, vergangenes Geschehen, das intensiv erlebt worden ist und angerührt hat, nicht aus dem Blick zu verlieren. Zweifellos sind Flucht und Vertreibung – Verlust der Heimat – sowie Ankunft in völlig neuer Umgebung und Angewiesensein auf vollständige Hilfe anderer Erlebnisse der besonderen Art, die es Wert sind, auch über das Leben der Betroffenen hinaus in Erinnerung zu bleiben.

65 Jahre nach der Vertreibung Zehntausender Neumarkter aus der Stadt und den Dörfern des Kreises Neumarkt und deren Ankunft im Weserbergland und im Osnabrücker Land kam es in Hilter im Landkreis Osnabrück zur Errichtung eines solchen Gedenkortes. Von März bis Juni 1946 kamen in dem an der eingleisigen Bahnstrecke Bielefeld-Halle/ Westf. Osnabrück gelegenen Bahnhof Hilter mehrere Züge, bestehend aus jeweils 50 Güterwaggons und besetzt mit 1.500 Heimatvertriebenen an und endeten hier. Eine erste Unterkunft in der Fremde fanden die ca. 28.000 Vertriebenen in dem nahe des Bahnhofs gelegenen ehemaligen Kalkwerk Hilter, das zu jener Zeit nicht mehr für die Herstellung von Kalk genutzt wurde, sondern später der Champignonzucht diente. Geschlafen wurde auf Stroh, das auf dem Ziegelboden des Kalkwerkes ausgebreitet war. Nach erfolgter Registrierung wurden die Vertriebenen in die Dörfer des Landkreises Osnabrück weitergeleitet. Schon seit Jahrzehnten ist das Kalkwerk verschwunden und hat einem Gewerbegebiet Platz gemacht. Geblieben ist der Bahnhof Hilter.

Hier kamen zum Gedenken an die Ankunft der aus Ostdeutschland im Jahre 1946 Vertriebenen am 2. April 2011, 65 Jahre danach, engagierte Mitglieder pommerscher und schlesischer Heimatvertriebenenvereine, u. a. Klaus Labude vom Neumarkter Verein e.V. Hameln, zusammen und beschlossen die Errichtung eines Gedenkstein wider das Vergessen. Der Stein, eingeweiht am 28. September 2013 und Garant für ein Bestehen dieses Gedenkortes über Generationen hinweg, trägt die Inschrift:

Bahnhof der Erinnerung

Hilter a.T.W.

1946

Endeten hier 16 Transporte mit je 1500 bis 1700 Vertriebenen und Flüchtlingen aus dem deutschen Osten, Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen und aus dem Sudetenland.

  1. April 2011

Gedenktag: 65 Jahre danach

Ostdeutsche Heimatgemeinschaft im Osnabrücker Land

Heimatrecht ist Menschenrecht

Am 13. Mai 2022 hatte ich Gelegenheit, an der Enthüllung und Segnung eines weiteren Gedenkortes in Form eines Lesepultes u. a. für ostdeutsche Heimatvertriebene im Landgestüt Warendorf teilzunehmen. Eigentlich war dieser feierlich Akt für 2021, also genau 75 Jahre nach dem großen Vertreibungsgeschehen des Jahres 1946, vorgesehen. Die Coronapandemie verzögerte jedoch die Terminierung der Einweihung einige Male. Der Gedenkort Landgestüt Warendorf, Luftlinie nicht viel mehr als 30 Kilometer südlich von Hilter gelegen, zieht den Kreis deutlich weiter und erinnert daran, dass die leeren und mit frischem Stroh ausgelegten Pferdeboxen in den Ställen des Landgestüts ab Kriegsende zunächst als Aufnahmelager für ca. 5.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene dienten, die auf den Rücktransport in ihre Heimat warteten. Gegen Jahresende 1945 kamen hier dann über 21.000 aus dem Rheinland und Westfalen nach Mittel- und Ostdeutschland Evakuierte unter, die nun zurückkehren konnten. Von März bis Herbst 1946 trafen hier ca. 43.000 Vertriebene, vor allem aus Schlesien und insbesondere aus dem Kreis Reichenbach und der Grafschaft Glatz, in Warendorf ein.

Die Initiative zur Errichtung des Gedenkortes Landgestüt Warendorf ging von dem Glatzer Großdechanten Prälat Franz Jung aus, der als achtjähriger Knabe mit seiner Familie 1946 aus der Grafschaft Glatz kommend hier eine erste Bleibe im Westen Deutschlands fand. Umgesetzt wurde das Projekt von den Heimatvertriebenenvereinen Grafschaft Glatz e.V. und dem Heimatbund Kreis Reichenbach. Die Enthüllung und Segnung des Lesepultes – platziert am Haupteingang zum Landgestüt – nahm Prälat Jung vor. Die sich anschließende Feierstunde im Mittelgang eines der Pferdeställe des Landgestüts war für nicht wenige der ca. 120 Teilnehmer – Angehörige der Erlebnisgeneration wie z. B. Franz Jung – sehr anrührend. Zentrales Element der musikalisch begleiteten Feierstunde nach den Grußworten des Gestütsleiters Dr. Felix Austermann, des Warendorfer Bürgermeister Peter Horstmann und des Vorsitzenden des Heimatbundes Kreis Reichenbach, Heinz Pieper, war der Festvortrag des Historikers Prof. Dr. Michael Hirschfeld mit dem Titel: Was war? – Was ist? – Was bleibt? Flucht und Vertreibung – von der Erlebnisgeneration zur Erinnerungskultur. Ergreifende Zeitzeugenbericht, Totengedenken und eine Kaffeetafel mit Mohn- und Streuselkuchen rundeten die Feierstunde ab.

Das in Bronze gearbeitete Lesepult, entworfen und gefertigt von dem Sendenhorster Künstler Basilius Kleinhans, hat den Namen „Erinnerung“ und auf seiner Oberfläche ist das Geschehen, das sich 1945/46 im Landgestüt Warendorf ereignete, wiedergegeben.

Erinnerung

Was bleibt? Ist es nur die Erinnerung an das Deutsche betreffende und mit Deutschen in Verbindung stehende Vertreibungsgeschehen u. ä. vor mehr als 75 Jahren.? Darf mit diesen Gedenkorten in Warendorf und Hilter und auch anderwärts mehr verbunden werden als nur Erinnerung, z. B. Hoffnung, das derartige Gedenkorte starke Zeichen sind und mit dazu beitragen, dass Flucht und Vertreibung einmal zu einem Ende kommen? Wohl kaum! Das aktuelle Geschehen in der Ukraine lehrt etwas anderes. Flucht und Vertreibung hat es schon immer gegeben und scheinen – weltweit gesehen – auf einen neuen Höhepunkt zuzusteuern – in Europa, in Afrika, in Asien und auch in Amerika. Der Menschheit scheinen Flucht und Vertreibung in die Wiege gelegt worden zu sein. Denken wir an die Vertreibung aus dem Paradies!

Der Neumarkter Verein e.V. Hameln sollte gemeinsam mit seinen Freunden in Stadt und Kreis Neumarkt Überlegungen nähertreten, ob nicht dort, wo der Abtransport der Heimatvertriebenen aus dem Kreis Neumarkt im Jahre 1946 begann – nämlich am Bahnhof Neumarkt-Stephansdorf (heute: Środa Śląska) – eine entsprechende Gedenktafel angebracht werden kann. Denn gerade heute, da Millionen von Flüchtlingen aus der Ukraine nach Polen – auch nach Niederschlesien – kommen und auf- und angenommen werden, darf das Vertreibungsgeschehen vor 77 Jahren aus Schlesien wie aus ganz Ostdeutschland nicht aus dem Blick geraten!

Dr. Bernhard Jungnitz
(stellvertr. Vorsitzender des Neumarkter Vereins e.V. Hameln
und Vorsitzender des Heimatwerkes Schlesischer Katholiken e.V.)

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