Grünkohl war und ist in Schlesien weitgehend unbekannt

Vor gut sechzig Jahren, als in der damaligen Bundesrepublik Deutschland das „Wirtschaftswunder“ seinen Lauf nahm, drängte es viele Deutsche hinaus aus den engen eigenen Grenzen. Die Mittelmeerländer – Italien, Griechenland, Jugoslawien, Frankreich und Spanien – waren für einige Wochen im Jahr begehrte Urlaubsziele. Zugleich kamen aus diesen Ländern viele Menschen nach Deutschland – als gerufene Gastarbeiter, um „unser Wirtschaftswunder“ zu befeuern. Nicht wenige der Gastarbeiter blieben auf Dauer und sind heute mit ihren Nachfahren in Deutschland beheimatet. Bei einem solchen Hin und Her konnte es natürlich nicht ausbleiben, dass auch ein kultureller Austausch, der vor der Küche nicht Halt machte, stattfinden musste. Mediterrane Küche, bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts nicht sonderlich populär in der Bundesrepublik Deutschland, ist heute eine Selbstverständlichkeit.

Zu dem Grundstück, auf dem der Verfasser dieser Zeilen vor mehr als zwanzig Jahren in dem kleinen Bauerndorf Nieder-Mois (Ujazd Dolny) im Kreis Neumarkt ein Ferienhaus errichtete, gehört auch ein Garten. Dieser wird seit einigen Jahren auch als Gemüsegarten genutzt. Robuste und pflegeleichte Pflanzen wie z. B. Kartoffeln, Bohnen und Grünkohl werden angebaut. Während der zurückliegenden trockenen Jahre war die Ernte eher mager ausgefallen. Im vergangenen Jahr 2022 hingegen war die Ernte respektabel, insbesondere der Ertrag des Grünkohlbeetes darf als üppig bezeichnet werden und hat so manchen Grünkohlschmaus beschert!

Bei den Überlegungen, welche Pflanzen im Nieder-Moiser Garten sinnvollerweise anzubauen wären, hörte ich von ehemaligen deutschen Bewohnern der Region, dass Grünkohl in Nieder-Mois und den Nachbardörfern zur deutschen Zeit nicht auf dem Speiseplan stand, somit unbekannt war. Dies bestätigte auch meine Mutter, die im Jahre 1927 in Klein-Schottgau (Sadkówek) bei Kanth/ Landkreis Breslau zur Welt kam und bis zur Vertreibung im Jahre 1946 dort und in einem Dorf der Umgebung, wo sie im Haushalt eines landwirtschaftlichen Betriebes im „in Stellung“ war, lebte. Grünkohl lernte sie erst nach der Vertreibung im Weserbergland im Westen Deutschlands kennen!

Bei meinen Besuchen in Polen seit Fronleichnam 1989, die mich nicht nur nach Niederschlesien, sondern auch nach Oberschlesien, auf die Halbinsel Hela und nach West- und Ostpreußen führten, habe ich öfters auch mit Polen gemeinsame Mahlzeiten gehabt. Immer war Kohl, Weißkohl (Biała Kapusta), in den verschiedensten Variationen dabei. Grünkohl (Jarmuż) hingegen fehlte. Erst um 2020 lernte ich bei einem Besuch im Nieder-Moiser Nachbardorf Buchwald (Bukówek) Grünkohl auf polnische Art kennen: Mieczysław und Joanna Kudryński hatten zum Essen eingeladen und Joanna hatte u. a. ein Grünkohl-Pesto zubereitet. Die Art des Grünkohlessens, die im Norden und Westen Deutschlands populär ist – gekochter Grünkohl mit Kohlwurst („Pinkel“) und Bratkartoffeln/ Salzkartoffeln –  gehört nicht zum Repertoire der polnischen Küche, so Joanna Kudryńska!

Nach diesen Erfahrungen mit Grünkohl/ Jarmuż in Polen/ Niederschlesien lag es einfach nahe, Freunde und Bekannte zu einem Grünkohlessen in das Nieder-Moiser Ferienhaus einzuladen. Ende Januar 2023 – das Wetter war kalt und die Temperatur schwankte um 0° Celsius, passend für einen abendlichen Grünkohlschmaus – waren neben Mieczysław und Joanna Kudryński die Ehepaare Janusz und Zofia Makowski aus Eisendorf/ Jarostów im Kreis Neumarkt und Michał und Martha Czupak aus Klein Baudiß/ Budziszów Mały im Kreis Liegnitz bei Hella und Bernhard Jungnitz zu Gast. Küchenchefin Hella „verzauberte“ die Gäste mit Grünkohl aus eigenem Anbau, „Pinkel“, Kassler und Bratkartoffeln – dazu herbes Jever-Pils – sowie einem Obstsalat mit Sahne und Amaretto-Krümeln als Nachtisch. Selbstverständlich war mit dem Essen der Abend nicht zu Ende. Dieser Abend der deutsch-polnischen Nachbarschaft und Gemeinsamkeit auf der Ebene des Alltäglichen – gemeinsam an einem Tisch sitzen, miteinander sprechen und essen – wurde mit nicht nur einem Gläschen Wodka allseits stark gewürdigt!

(Dr. Bernhard Jungnitz, stellvertr. Vorsitzender des Neumarkter Vereins)

(v.l.n.r.): Joanna Kudryński, Mieczyslaw Kudryński, Janusz Makowski, Bernhard Jungnitz.

 

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